Böögg-Verbrennung in Heiden (AR)

Der Böögg konnte am diesjährigen Sechseläuten leider nicht angezündet werden. Doch der schneeweisse Zürcher wird seinem Schicksal nicht entgehen können: Am Samstag, dem 22. Juni 2024, wird er im Gastkanton in Heiden verbrannt. Hätte die Story vom Zürcher Böögg auch anders verlaufen können? Ich wage einen Versuch:

Der Böögg als Hoffnungsfunke

Eine Kurzgeschichte

Vorgabe: 20min Zeit
Bild: von KI generiert

Zürich. Ein kalter und windiger Dienstagmorgen im April. Arthur, der Kranführer, steigt die lange Leiter empor. Er fröstelt. Der Wind zerrt leicht an seinem orangenen Overall. Bei jeder Stufe, die er hochsteigt, sinkt sein Lebenswille. Seine Frau ist nun schon 10 Jahre fort. Sie hatte ihn für ihren Gärtner verlassen. Für einen 15 Jahre jüngeren Mann, abenteuerlustiger als Arthur, mit weniger Bauch und mehr Tattoos. Seine beiden Töchter haben den Kontakt zu ihm abgebrochen, nachdem er wegen Stalking ein Kontaktverbot zu seiner Frau aufgebrummt bekommen hatte.

Seit vielen Jahren hat Arthur keinen Kontakt mehr zu Menschen ausserhalb seiner Berufs. Seine Arbeitszeit verbringt er meistens alleine, in luftigen Höhen, umgeben nur vom Kreischen der Möwen, die lauter sind als der Stadtlärm weit unter ihm.

Arthur erreicht schnaufend den obersten Boden des Krans in 32 Metern Höhe. Bevor er das kleine Führerhaus öffnet, dreht er sich um, schaut auf die Baustelle beim neuen Globus im alten Gebäude und hat nur einen Gedanken im Kopf: «Ich könnte einfach loslassen. Nur einmal fliegen, bevor es vorbei ist.»

Arthur fliegt nicht, sondern setzt sich an die Hebel und beginnt mit der Arbeit. Als sich ein Sonnenstrahl durch die Wolken schiebt, fällt sein Blick auf den «Böögg», der unanständig unangezündet auf dem Scheiterhaufen steht. Unten patrouillieren zwei Polizistinnen, die Köpfe in den aufgestellten Kragen ihrer Uniformen eingezogen.

Eine plötzliche Eingebung durchzuckt ihn. Mit entschlossenem Blick schwenkt Arthur den langen Ausleger über den Sechseläutenplatz. Beinahe lautlos fährt die Laufkatze bis ans äusserste Ende des Auslegers und lässt die Hubflasche mit dem grossen Greifer nach unten gleiten. Der Wind lässt den Greifer baumeln, aber Arthur ist ein Profi auf seinem Gebiet. Mit viel Geduld schafft er es, den «Böögg» zu packen und nach oben zu ziehen. Unten ziehen die Polizistinnen weiter ihre Kreise.

Arthur schwenkt den Kran zurück und lädt den grossen Schneemann vorsichtig auf der Ladefläche seines Pickups. Liegend ist das «Sechseläuten-Männchen» fast nicht zu sehen. Arthur grinst, sichert den Ausleger, schaltet den Strom aus und macht sich auf den Weg nach unten.

Er grinst noch immer, als er den Gang einlegt und losfährt, in Richtung seiner kleinen Mietwohnung in Dübendorf. Um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen, hat Arthur den «Böögg» mit einer olivgrünen Plache zugedeckt und die Gurte festgezurrt.

Bei seiner Wohnung angekommen, lässt der Kranführer den Pickup auf dem Parkplatz stehen und steigt in den Keller des Hauses hinab. Ein paar Minuten später sieht man ihn die Treppen zu seiner Haustüre hochgehen, schnaufend mit einem Holzstecken und einer Spanplatte in der Hand.

Oben in der Wohnung hängt er seine Jacke über einen Stuhl, zieht einen Eding aus einer Schublade und schreibt etwas in grossen Buchstaben auf die Spanplatte. Kurz darauf hört man ein Hämmern in der Wohnung. Arthur verbringt nur eine halbe Stunde drinnen, dann kommt er zurück zum Pickup, das gebastelte Plakat in den Händen. Er legt es unter die Plane zum «Böögg», steigt ins Auto und fährt los.

Als Arthurs Frau eine Stunde später erwacht und sich mit dem Kaffee ans Fenster stellt, traut sie ihren Augen nicht. In ihrem Garten steht der «Böögg», der Echte. In seiner Seite steckt ein Schild mit der Aufschrift: «Ich brenne nur für dich». Verwirrt und zugleich gerührt öffnet sie die Tür, um näher zu treten. Als sie direkt vor dem «Böögg» steht, hört sie ein leises Klicken. Dann explodiert der Schneemann in einem farbenfrohen Feuerwerk, das den ganzen Garten erhellt. Arthur, der Kranführer, steht lächelnd hinter der nächsten Hausecke und sieht zu, wie sein Geschenk das Grau des Morgens in ein buntes Spektakel verwandelt. Dann dreht er sich ab und geht davon.

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