Die falsche Entscheidung
Input: Geschichte einer Person, die ihrem innigsten Wunsch nachkommt, aber dafür bezahlen muss.
Zeit: 30min
Bild: von KI generiert
Sommer 2008. Nach vielen Monaten der Unsicherheit, nach unzähligen Gesprächen und leeren Versprechungen war es endlich so weit. Die Waffe lag schwer in Angelicas Händen. Ungläubig schaute sie auf das Maschinengewehr hinab und streichelte dann fast liebevoll über deren Lauf. Beinahe hatte ihr Ingrid Betancourt einen Strich durch die Rechnung gemacht. Deren Befreiung durch das kolumbianische Militär lag drei Wochen zurück. Angelica war bereits bei den Vermittlern im Dschungel angelangt gewesen, als Hektik ausgebrochen war. Alle Verfahren wurden auf Eis gelegt und die junge Frau musste viele Tage in einem stickigen Hotel ausharren, bis sie heute Morgen endlich abgeholt worden war. Dann ging alles sehr schnell. Das Aufnahmeverfahren dauerte nur ein paar Stunden. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Comandante Ramos war sie nun endlich ein Mitglied der FARC-Rebellen.
Als sie mit 13 die Schule hatte abbrechen müssen, um sich Arbeit zu suchen, hatte sie solch eine Wut gespürt, dass sie gleich gewusst hatte, was zu tun war. Ihr Vater war ein Jahr zuvor gestorben – aus Langeweile zu Tode gesoffen, wie ihre Mutter zu sagen pflegte. Als Angelica noch klein gewesen war, hatte er sich noch um einen Job bemüht, aber irgendwann hatte er aufgegeben. „Keine Perspektive in dieser Stadt voller verlogener Politiker“, hatte er jeweils ausgerufen, wild gestikulierend mit dem billigsten Aguardiente, den es um die Ecke zu kaufen gab.
Nach der kurzen Trauerfeier, bei welcher nicht einmal ein Priester, sondern nur der Totengräber, sie und ihre Mutter anwesend gewesen waren, hatte ihre Mamá zu Angelica gesagt: „Hätte ich den Mut dazu, ich würde mich der FARC anschließen. Die können wirklich etwas bewirken in diesem Land voller Papageien, Faultiere und hinterhältigen Echsen.“ Angelica wusste, dass ihre Mutter damit nicht die artenreiche Tierwelt Kolumbiens angesprochen hatte. Die Saat war ausgebracht und der Samen fiel auf sehr fruchtbaren Boden. In Angelica war der Wunsch nach Veränderung, nach Selbstbestimmtheit und nach Freiheit gewachsen. Geduldig hatte sie sich nach den richtigen Leuten erkundigt. Sie hatte sich nicht abschrecken lassen von nächtlichen Besuchen in den Barrios, den Ghettos außerhalb der Stadt. Auch hatte sie mehrere Ausflüge in kleinere Orte mitten im Dschungel unternommen, die sie manchmal gar nicht und manchmal einen kleinen Schritt weitergebracht hatten.
Und nun war sie am Ziel. Sie durfte an der Seite der Rebellen für die Rechte des kolumbianischen Volkes und gegen die soziale Ungerechtigkeit kämpfen. Sie war stolz und fühlte sich geehrt, auch wenn sie sich fragte, warum das jetzt doch so schnell gegangen war. Den Grund sollte sie bald erfahren. Ihre Begleiter, eine kleine Truppe von vier jungen Männern, wurden plötzlich nervös. Einer von ihnen hatte einen Funkspruch des Comandante entgegengenommen. Offenbar war ein Flugzeug unterwegs, welches Gift auf die Coca Felder sprühen sollte. Angelica wusste, dass die Coca Bauern in der Region allesamt von der FARC bestochen worden waren, um die traditionellen Blätter an die Rebellen abzugeben, welche sie dann in ihren Labors zu Kokain verarbeiteten. Die kaufwilligen Amerikaner und Europäer finanzierten dadurch die FARC. Bewusst oder unbewusst – das fragte sich Angelica manchmal. Die giftsprühenden Flugzeuge waren ein beliebtes Mittel des kolumbianischen Militärs, um diesen Kreislauf zu unterbrechen.
Kaum hatte sich die kleine Truppe rund um Angelica auf einer Lichtung stationiert, tauchte das Flugzeug über ihnen auf. Einer der Rebellen schoss – und traf. Das kleine Flugzeug wankte und zog dann im Sinkflug eine schwarze Rauchwolke hinter sich her. Die Männer rund um Angelica rannten los und sie hinten nach. Sie traten aus dem Dickicht auf ein größeres Feld und sahen, wie das Flugzeug nach der Notlandung direkt auf sie zurollte. Die Tür schwang auf und ein Mann sprang heraus, drehte sich aber gleich zur Maschine um. Der junge Mann neben Angelika schoss ihm in den Rücken. Im gleichen Moment stand eine weitere Person in der Tür des Flugzeugs. „Dispara!“, schrie ein Anderer der Truppe Angelica an. „Schiess!“
Die junge Frau legte an, wie sie es geübt hatte. Sie schloss ein Auge und schoss. Als das Projektil ihre Waffe verließ, riss sie die Augen auf. Die Zielperson war ein Junge, keine zehn Jahre alt. Er sackte zusammen und fiel vornüber auf den leblosen Körper seines Begleiters. Erst jetzt sah Angelica die Aufschrift auf dem Flugzeug: VUELO TURISTICO – Touristenflug.