Die Prüfung. Oder der Fluss des Chi

Die Prüfung. Oder der Fluss des Chi

Input: Eine Geschichte, deren Lauf von einem Tier verändert wird.
Bild: KI-generiert

 

Ti Juan war verzweifelt. Warum, fragte er sich zum wiederholten Mal. Sechzehn Jahre hatte er trainiert; Schweiß, Blut und Tränen gegeben für diesen einen Moment. Obwohl er damals erst drei Jahre alt gewesen war, konnte er sich noch genau an den betagten Mönch erinnern, der seinem Vater angeboten hatte, Ti Juan mitzunehmen. Der Junge war das siebte Kind seiner Eltern und satt wurde keines von ihnen. Der alte Mann hatte Eindruck auf Ti Juan gemacht – wie er dagestanden hatte mit rasiertem Schädel und langem Bart in der traditionellen Mönchskutte des nahegelegenen Klosters.

Der Junge hatte sich schnell an das klösterliche Leben gewöhnt. Bereits am ersten Tag hatte sein Training begonnen. Tai-Chi, Meditation und Kung Fu. Dazwischen wurde gebetet, gegessen und geschlafen. Ti Juan war ein guter Schüler. Er lernte schnell und diszipliniert. Sein Körper war kräftig, seine Haut ledrig vom ständigen Training im Hof und sein Geist wach und entschlossen. Die Zwischenprüfungen hatte er alle beim ersten Mal bestanden und sein Meister lobte ihn für seine schnelle Reaktion in allen Disziplinen.

Nun war Ti Juan 19 und die große Aufnahmeprüfung stand bevor. Danach wäre er selbst ein Sifu, ein Meister und dürfte die jüngeren Mönche unterrichten. Sollte er nicht bestehen, würde er aus der Gemeinschaft entlassen und müsste sich eine neue Bleibe suchen. Dies war für Ti Juan keine Option. Er war sich sicher, dass er alles gelernt hatte, was es zu lernen gab.

Die erste Aufgabe war so einfach, dass er nicht sicher war, ob er seinen Sifu richtig verstanden hatte. Er musste die 24 Peking-Formen des Tai-Chi Yang Stils vorzeigen. Diese beherrschten im Kloster bereits die Fünfjährigen. Als er sich in der Mitte des Innenhofs in die Ausgangsposition brachte und die versammelten Mönche rundherum ausblendete, merkte er, wie schwierig diese Aufgabe in Wirklichkeit war. Jede seiner Bewegungen musste perfekt ausgeführt sein. Er durfte sich nicht von der Routine beherrschen lassen und musste hochkonzentriert jede Position mit seiner Atmung koordinieren. Es gelang ihm ohne einen Fehler und auch die anschließende Aufgabe meisterte er. Obwohl er den Reiterstand am meisten gefürchtet hatte, gelang es ihm, zehn volle Minuten auf einem Bein auf einem Pfahl zu stehen und das andere Bein gestreckt über seinen Kopf zu halten.

Doch nun kam die dritte und letzte Aufgabe: Ti Juan sollte sich an den Rand stellen, währenddem sich zwei fremde Mönche aus einem anderen Kloster in der Mitte des Hofes positionierten. Die beiden würden sich zum Schattenkampf aufstellen, würden aber nicht beginnen. Ti Juan müsste, ohne sie einmal kämpfen gesehen zu haben, entscheiden, welcher der beiden gewinnen würde. Er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Dank seiner langjährigen Erfahrung wusste er, dass er sich nicht auf das äußere Erscheinungsbild der Kämpfer verlassen durfte. Zu oft hatte er als sehr junger Mönch größere und körperlich Überlegene besiegt. Ti Juan musste versuchen, die innere Stärke der beiden zu erkennen. Er musste sehen können, wie das Chi fließt und wie die Energie zum Kampf eingesetzt werden konnte.

Der Prüfling schloss die Augen und aktivierte sein eigenes Chi. Er hob die Hände langsam auf Kopfhöhe und senkte sie wieder. Dabei kontrollierte er seine Atmung und nahm jede Kleinigkeit zwischen den Klostermauern wahr. Das Zirpen der Zikaden, das Räuspern eines Zusehers, die Sonnenstrahlen auf seiner Haut und das ferne Rascheln des Bambushaines. Als Ti Juan seine Augen öffnete, sah er einen Schmetterling, der auf die beiden Kämpfer zuflatterte. Zwischen die beiden gelangt, wurde er trotz der Windstille vom kleineren der beiden Mönche in Richtung des größeren gewirbelt. Getrieben vom starken Energiefluss des kleineren Mönchs flatterte er kurz neben dem gegenüberstehenden Kämpfer auf und ab und flatterte dann Richtung Sonne davon. Danke kleiner Schmetterling, dachte Ti Juan und gab selbstbewusst die richtige Antwort.

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