Musik als Sprache: die Macht der Töne

Musik als Sprache: die Macht der Töne

Input: Gemaltes Bild einer Geigerin am Fenster
Zeit: 30min
Bild: von KI generiert

Die Erkenntnis hatte sie wie ein Schlag getroffen! Sie konnte nicht mehr sprechen. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund, aber kein laut kam über ihre Lippen. Noch immer lag sie in diesem sterilen Krankenhausbett. Die Maschine piepste, ansonsten war sie allein. Die Erinnerung an den Unfall war noch immer nicht zurückgekommen. Sie wusste, dass sie den gewohnten Weg mit dem Fahrrad nach Hause genommen hatte, aber kurz nach dem kleinen Einkaufsladen an der Ecke stoppte die Erinnerung und alles wurde schwarz. Körperlich ging es ihr besser. Die gebrochenen Rippen und das Schlüsselbein verheilten und die Platzwunde am Kopf sah schon viel besser aus. Ihr Hirn hat den grössten Schaden erlitten. „Ein Schädel-Hirn-Trauma aufgrund des Unfalls“, sagten die Ärzte. „Das wird wieder“, meinten die Pflegenden.

Sie war sich da nicht so sicher. Was war sie denn noch ohne Sprache? Sie, die derart extrovertiert durchs Leben ging und für alle einen freundlichen Satz und ein Lächeln bereithielt. Eine Welt ohne Sprache konnte sie sich nicht vorstellen. Während sie ihren Tränen freien Lauf ließ, klopfte es und Eveline trat ein. Ihre Großmutter sah sie lächelnd an und schloss dann bestimmt die Tür hinter sich. Eveline straffte den Rücken und kam mit aufrechtem Gang auf sie zu. „Wie geht es dir, meine Liebe?“, fragte sie und ließ ihre freundlichen Augen auf dem Gesicht ihrer Enkelin ruhen. Die betagte Dame erwartete keine Antwort, setzte sich stattdessen auf die Bettkante und trocknete die Tränen der jungen Frau mit einem Taschentuch. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie daraufhin tröstend und griff nach einem länglichen schwarzen Koffer, den sie neben dem Bett platziert hatte.

Als ihre Enkelin sah, dass es sich dabei um ihren Geigenkoffer handelte, sperrte sie vor Überraschung die Augen weit auf. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die raue schwarze Oberfläche, wie wenn die Erinnerung an ihr musikalisches Talent eben erst zurückgekommen worden wäre. Dann ließ sie den Verschluss aufschnappen und öffnete den Koffer. Sofort stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie setzte sich ganz im Bett auf und legte das Instrument routiniert auf die linke Schulter. Kurz zögerte sie und sah zu ihrer Großmutter. Als diese ihr aufmunternd zulächelte, setzte sie den Bogen vorsichtig auf die Saiten und begann fast zärtlich, darüber zu streichen.

Anfangs bewegte sie ihren Arm langsam und kostete jeden Ton einzeln bis zum Ende des Bogens aus. Doch dann schloss sie die Augen und ihre Finger begannen über den Geigenhals zu tanzen. Grenzenlose Erleichterung erfasste ihren Körper, als sie den Bogen ein letztes Mal über die Saiten zog. Da war sie wieder, die Sprache.

 

 

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